Haltung im Wartezimmer

Es ist 10 Uhr morgens, ich betrete das Wartezimmer meines Hausarztes. Eine Routineuntersuchung steht an.

Es sind bereits vier Menschen im Raum, von denen ich zunächst nur die Haare sehen kann. Alle blicken auf ihr Mobiltelefon. Zwei Köpfe richten sich kurz auf, um meinen Wunsch, dass der Morgen gut sein solle, mit einem „mmoeien“ entgegenzunehmen.

Eintscheidung 1: Bewusstsein über Ablenkung

In diesem Moment treffe ich eine Entscheidung: Ich werde mein Mobiltelefon nicht aus der Tasche nehmen. Stattdessen richte ich mich am vorderen Rand des Stuhles auf, beginne den Kontakt zwischen Gehirn und Körper einzustimmen und ihn wahrzunehmen.

Ich richte die Sitzbeinhöcker auf, mein Kreuzbein lasse ich sich zum Becken hin stabilisieren. Den ersten Lendenwirbel ziehe ich weg vom Kreuzbein, während das Steißbein sich aus diesem „move“ neu orientiert und sich in die Gegenrichtung entlastet.

Das geht weiter, bis ich gar nicht mehr weiß, ob der Körper meinen Hinweise aus der Schaltstelle Gehirn folgt oder umgekehrt. So spüre ich sehr bald eine wundervolle Leichtigkeit beim Aufrechtsitzen. Alles fühlt sich sinnvoll, durchlässig und stimmig an. Meine Atmung reagiert mit einer besonderen Tiefe und angenehmen Ruhe. Ich fühle mich lebendig und frisch.

Ich bin die Einzige im Raum, die nicht auf ihr Mobiltelefon schaut, die den Kopf über dem Atlas schweben lässt und die Halswirbelsäule mit einer verdienten Entlastung verwöhnt.

Drei von den vier Menschen im Raum beginnen nervös zu werden. Anscheinend ist meine Aufrichtung ein Störfaktor oder vielleicht ein anormales Phänomen?

Der erste schaut kurz zu mir. Ich antworte mit einem freundlichen Lächeln und er knickt ganz schnell die Halswirbelsäule erneut nach unten, Blick zum Mobiltelefon. Ich höre förmlich sein Gehirn sagen: „Auf keinem Fall hoch schauen! Bleib unten! Hier bist du sicher“. Zwei Weitere machen das Gleiche. Der Vierte scheint so vertieft in sein Mobiltelefon zu sein, dass er nicht einmal bemerkt, dass sein Pullover auf dem Boden gefallen ist.

Tatsächlich haben mir diese kurzen Blicke eine Botschaft hinterlassen und für einen klitzekleinen Moment erfahre ich den Impuls, mein Mobiltelefon aus der Tasche zu holen, um mich hinter ihm zu verstecken, um „normal, wie der Rest zu sein“. Aber dieses Gefühl der Leichtigkeit und der Ruhe aus meiner Aufrichtung übertrifft alles.

Entscheidung 2: Mut zur Andersartigkeit

Und so treffe ich die zweite Entscheidung in diesem Raum: ich entscheide mich, mutig zu sein, zu mir zu stehen und weiter auf meinen Sitzbeinhöckern zu schweben. Ich entscheide mich also für mich.

Mein Blick richtet sich nun nach draußen. Ich schaue durch das Fenster und entdecke eine wunderschöne Birke. Auf ihrem Ast erkenne ich eine Elster… Plötzlich seufzt jemand dramatisch laut im Raum. Er scheint von der längeren Wartezeit genervt zu sein. Er steht auf, geht zur Sprechstundenhilfe. Ich höre ihn fragen, wie lange dauert es noch. Er kommt zurück und noch bevor sein “Allerwertester” Kontakt mit dem Stuhl aufnimmt ist der Blick schon auf seinem Mobiltelefon und sein Nacken ein geknickter Strohhalm.

Depressivität oder Realität?

Ich schaue diese Menschen an. Von außen sieht es aus, als ob ich in eine Gruppe anonymer Depressiver geraten wäre. Zumindest strahlt ihre Haltung das aus. Ich denke an diesen Fotograf, der vor Jahren viele Menschen, die mit Mobiltelefon unterwegs waren, fotografiert und dann auf den Fotos alle Mobiltelefone wegretuschiert hat. Die Fotos waren ein trauriger Anblick, denn diese Menschen sahen von außen einfach nur depressiv, mit verlorenen Blick aus.

Die Veränderung im Raum

Meine Sturheit trägt Früchte. Die Frau vorne schaut zu mir und wir lächeln uns an. Sie steckt das Mobiltelefon weg und richtet sich automatisch auf. Wir tauschen ein paar Worte aus. Nach wenigen Minuten kommt der Mann mit dem vorhin geknickten Strohhalm auch zu uns ins Gespräch, während er sein Mobiltelefon in seinen Rucksack steckt. Gleich fühle ich mich noch leichter, die Energie im Raum wirkt jetzt viel lebendiger und frischer.

Aus der Praxis gehe ich jedoch mit einer Frage im Kopf. Ist es schon so weit, dass jemand ohne Mobiltelefon in der Hand, mit einer aufgerichteten Haltung und mit vollkommener Präsenz als nicht-Normal angesehen wird? Verstecken wir uns hinter einem Mobiltelefon, um nicht aufzufallen?

Entscheidung 3: Die bewusste Präsenz

In diesem Moment treffe ich die dritte Entscheidung. Von nun an werde ich mich in keinem Warteraum (Zug, Bus, Arzt, etc.) weder hinter meinem Mobiltelefon verstecken noch mich davon betäuben lassen, sondern werde mit einer bewussten Aufrichtung, von innen und von außen zu mir stehen und zu der Menschlichkeit im Allgemeinen. Damit das Normalste und Natürlichste der Welt, nicht als anormal oder ungewohnt angesehen wird. Damit das Leben leichter und schöner wird.

Macht ihr mit?

Vielleicht sehen und erkennen wir uns dann unterwegs. Ich freue mich schon auf vielen diesen Augen-Blicke.

Eure Gemma

Gemma Mari Gurt

Gemma Mari Gurt

Haltungscoach

Seit über 30 Jahren trainiere ich Menschen in Gruppen und im Einzel-Coaching. Mich fasziniert die Vernetzung körperlicher, geistiger und seelischer Haltung. Über die Jahre ist die Haltung für mich ein Lebensstil geworden.

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